Im Dschungel der Nachkriegsjahre lenkte der »Urwalddoktor« den Blick fort von der Shoah ins ferne Afrika und auf leidende Schwarze. 2025 ist ein Albert-Schweitzer-Jahr. Erinnert wird an den 150. Geburtstag und den 60. Todestag des Mannes, den Millionen in der jungen Bundesrepublik verehrt haben. Seine Worte seien für die Deutschen wie »ein Evangelium«, befand Kanzler Adenauer.
Albert Schweitzer als moralischer Held gehört untrennbar zum Dilemma der deutschen Nachkriegszeit und zur Ära des Wiederaufbaus. Der im Elsass geborene Denker und Mediziner hatte schon vor dem ersten Weltkrieg in Zentralafrika ein Buschhospital gegründet. Bekannt wurde er als Warner vor dem »Verfall der Kultur« aber vor allem durch Erzählungen über sein Spital »Lambarene«. Hunderte Straßen und Schulen wurden nach ihm benannt, tausende Bücher und Artikel widmeten sich Schweitzers guten Taten.
Kaum ein stärkerer Kontrast war denkbar zu den verbrecherischen Taten der jüngsten Vergangenheit, zur Katastrophe des Nationalsozialismus. Deren Folgen waren überall präsent, nicht nur mit den Trümmerbergen. Staatliche Souveränität war verloren, bis zur Republikgründung 1949 gab es keine Nation, keine Flagge, keine Hymne. Weltweit war das Entsetzen über die Verbrechen, die ans Licht kamen, und eine Gesellschaft, die geprägt war vom narzisstischen Wahn der Suprematie, zum Paria der Weltgemeinschaft abstürzen ließ.
Viele, die in den NS-Staat verstrickt gewesen waren, lebten in Schuldabwehr und latenter Dauerangst vor Rache. Massiv war das Ressentiment gegen die Alliierten, die das in Zonen aufgeteilte Territorium des kollabierten »Deutschen Reichs« verwalteten, und als Kolonialherren empfunden wurden. »Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien« hieß es ironisch in einem Schlager.
In diesem Klima begann der enorme Erfolg der Figur Albert Schweitzer als moralischer Held, der Orientierung und moralischen Kompass bot. Symbolisch nahm Schweitzer kranke schwarze Schafe auf und heilte sie. Er hatte keine Scheu vor Aussätzigen, seine Autorität fällte kein Urteil über »wilde Kannibalen«. In der Fantasie konnte man in Lambarene geborgen sein. Zugleich war es möglich, sich mit einem erhabenen, mächtigen weißen Mann zu identifizieren, der Angehörige einer »anderen Rasse« nicht verfolgte, sondern heilte. Spenden für Lambarene waren verschobene Wiedergutmachung, ohne dass die Verschiebung ins Bewusstsein rückte.
Die Deutschen ließen sich von Schweitzer und den Lambarene-Erzählungen aufrichten und trösten, erbauen und beim Aufbau begleiten, ablenken und lenken. Schweitzers Motto der »Ehrfurcht vor dem Leben« bot eine Kurzformel zur Remoralisierung, und er wurde zu einer Art Übergangsobjekt zwischen Diktatur und Demokratie.
Wie sich die bundesdeutschen Repräsentationen von Schweitzer und Lambarene symbolisch entschlüsseln, sozialpsychologisch lesen lassen, das wird in der Studie »Tröstliche Tropen« exemplarisch analysiert.
Anlässlich des Geburtstags von Albert Schweitzer war Caroline Fetscher am 14. Januar 2025 zu Gast beim taz talk. Ihr Gespräch mit Jan Feddersen können Sie hier auf YouTube sehen.
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Tröstliche Tropen
Schweitzer war ein ethischer Popstar der jungen Bundesrepublik. Tausende Schulkinder schrieben Briefe an den »Urwalddoktor«. Sein legendäres Spital »Lambarene« avancierte zum symbolisch aufgeladenen Ort eines Heilungsgeschehens. Exemplarisch zeigt sich an diesem Mythos eine Suche nach Bewältigung untilgbarer Schuld, entstanden durch die Shoah. Fetscher beleuchtet jenen Aspekt der Großgruppenpsyche der Bundesdeutschen nach 1945. Im Kontrast erkundet sie das zeithistorische Lambaréné in Äquatorialafrika. Erst die postkoloniale Perspektive offenbart die Kluft zwischen Fiktion und Faktizität. Deutlich wird die Dynamik der Projektionen auf ein imaginäres Afrika.