Felix Berth

Die vergessenen Säuglingsheime

Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland

Cover Die vergessenen Säuglingsheime

EUR 29,90

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Buchreihe: Forum Psychosozial

Verlag: Psychosozial-Verlag

185 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm

ISBN-13: 978-3-8379-3204-1, Bestell-Nr.: 3204

DOI: https://doi.org/10.30820/9783837979343
Das Säuglingsheim ist eine vergessene Institution der beiden deutschen Staaten. Häufiger als bisher angenommen waren Babys und Kleinkinder in der Nachkriegszeit dort untergebracht, manche monate- oder sogar jahrelang. Die Lebensbedingungen beeinträchtigten die kindliche Entwicklung massiv, was die damalige psychologische und psychoanalytische Forschung bald als Hospitalismus beschrieb. In der Bundesrepublik wurden die Heime deshalb in den sechziger Jahren aufgelöst; in der DDR wurden diese Erkenntnisse zunächst ebenfalls wahrgenommen, allerdings interessierten sich die Behörden nach dem Bau der Mauer 1961 nicht mehr dafür. Säuglingsheime existierten dort bis zum Jahr 1989.

Die Einweisungskriterien waren nicht präzise festgelegt, was den Behörden große Handlungsspielräume gab; entsprechend stark wirkten sich auch die damaligen Moralvorstellungen aus. So waren es häufig Kinder von alleinerziehenden Müttern, von kranken oder misshandelnden Eltern, die in die Heime kamen. Weil sich die Betroffenen nicht oder nur stark eingeschränkt an ihre Zeit in den Heimen erinnern können, rekonstruiert Felix Berth anhand von Archivmaterial und damaligen wissenschaftlichen Untersuchungen die Lebensbedingungen in den Säuglingsheimen. Betroffene kommen in Interviews zu Wort und schildern ihre heutige Sicht auf die Zeit im Heim.

Inhaltsverzeichnis

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Fünf Gründe für eine Geschichte des Säuglingsheims


Teil I: Die Sozialgeschichte des Säuglingsheims

1. Eine Million Kinder, mindestens
Säuglingsheime waren bis in die 60er Jahre weit verbreitet – und hielten sich in der DDR sogar bis 1989

2. Warum ins Heim?
In der Bundesrepublik und der DDR kamen Kinder aus ähnlichen Gründen in Säuglingsheime

3. Idylle und Horror
Die Lebensbedingungen in Säuglingsheimen

4. Dramatische Defizite
Forscherinnen stellten bei Säuglingsheim-Kindern erhebliche Entwicklungsverzögerungen fest

5. Nicht in der Familie
Die Systeme von Wochenkrippen, Pflegefamilien und Verschickungsheimen


Teil II: Die Sicht der Betroffenen

6. »Das Kind im Kartoffelsack war ich«
Mehr als zwei Jahre im Säuglingsheim, danach 13 Jahre im Kinder- und Jugendheim: Klaus H. berichtet von Traumatisierungen und seiner Suche nach den Akten

7. »Worauf soll ich denn wütend sein?«
Fritz H., Jahrgang 1968, ist der kleine Bruder von Klaus H. Er wurde anderthalb Jahre nach Klaus geboren und war mit ihm zunächst im Säuglingsheim, später in einem katholischen Kinderheim

8. »Meine frühe Kindheit ist keine Leerstelle«
Aufgewachsen in den Heimen der DDR: Klaus-Peter G. erzählt, dass er sich dort zuhause fühlte

9. »Ich dachte, ich gehöre nicht zu dieser Familie«
Die Eltern fuhren in den Urlaub und ließen ihr Baby für einige Wochen im Heim. Fünf Jahrzehnte später denkt Kathy B. über die Auswirkungen nach

10. »Immerhin hatten sie sonntags eigene Kleider«
Fünf Jahre lang leitete Annelore D. ein Säuglingsheim in der DDR. Anfangs konnten die Zweijährigen dort noch keine Treppe hochgehen

11. »Die Kinder haben den Oberkörper so merkwürdig bewegt«
Brigitte R. arbeitete in den 60er Jahren ehrenamtlich in einem Säuglingsheim. Sie beobachtete überforderte katholische Nonnen und kindlichen Hospitalismus

12. »Kurze Aufenthalte bergen ein geringeres Risiko«
Der Psychologe Gottfried Spangler beschreibt, wie die aktuelle Forschung Säuglingsheime beurteilt – und was das für Betroffene bedeutet


Teil III: Die Wissensgeschichte des Säuglingsheims

13. Hygiene und Härte
Kindheitsvorstellungen bis zum Zweiten Weltkrieg

14. Das neue Bild vom Kind
Triebgesteuerter Tyrann oder liebesbedürftiges Wesen? Der Perspektivwechsel der Psychoanalyse

15. Die Entdeckung Bowlbys
Wie die frühe Bindungstheorie nach Deutschland kam

16. Sickereffekte und Blockaden
Was in der deutschen Fachwelt ankam

17. Das lange Zögern
Neue Ideen von Kleinkinderziehung drangen in Deutschland nur langsam durch


Sechs Fragen
Abschließende Überlegungen zur Geschichte des Säuglingsheims

Dank …

Rezensionen

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Unsere Jugend 3/2024

Rezension von Maria Kurz-Adam

»Der Historiker und Erziehungswissenschaftler Felix Berth nimmt in seinem lesenswerten Buch ›Die vergessenen Säuglingsheime‹ eine stellvertretende Stimme ein, um den Menschen, die in diesen Säuglingsheimen zwischen 1945 und 1960 untergebracht waren, eine Sprache zu verleihen. Er schließt damit eine Lücke, die im Prozess der Aufarbeitung der Heimerziehung in dem von der Bundesregierung 2008 eingerichteten ›Runden Tisch Heimerziehung‹ offengeblieben ist. Denn wie konnten dort ehemalige Heimkinder über ihre (Leidens-)Geschichte erzählen, wenn diese Geschichte noch vor ihrem ersten Lebensjahr begonnen hatte?…«

Das Historisch-Politische Buch 1–4.70

Rezension von Peter Steinbach

»Methodisch verbindet Berth die Sozialgeschichte der frühen Kindheit und die Untersuchung der Heime als Institution mit der Wissensgeschichte. Er nutzt dabei diskursgeschichtliche Potentiale. [...] Berth zeigt, dass kritische Befunde besonnen erforscht werden können, ohne in die Überheblichkeit des Nachgeborenen zu verfallen, der die Vergangenheit verurteilt, weil er angeblich mehr weiß als seine Altvorderen…«

Netz. Zeitschrift für Pflege- und Adoptivkinder Schweiz Nr. 3, 2023

»Der Historiker und Erziehungswissenschaftler Felix Berth zeichnet die Geschichte der Säuglingsheime nach. Er arbeitet dazu mit Grafiken, Bildern und Zeugnissen von Betroffenen…«

H-Soz-Kult, 11. August 2023

Rezension von Uwe Kaminsky

»Felix Berth beantwortet die selbst gestellten Fragen durchaus souverän und gut lesbar. [...] Das Buch stellt gleichwohl ein Pionierwerk zu Säuglingsheimen dar, dessen differenzierende Vertiefung allerdings noch aussteht…«

Abendzeitung am 2. Juli 2023

Rezension von Felix Müller

»›23 Stunden ohne Ansprache‹: Felix Berth hat über die Geschichte der Säuglingsheime der Nachkriegszeit geforscht. Felix Müller führte ein Gespräch über den Blick auf die Kleinsten, ihren Alltag, Folgeschäden – und die Frage nach der Aufarbeitung…« [mehr]

Deutschlandfunk Andruck – Das Magazin für politische Literatur am 19. Juni 2023

Rezension von Dörte Hinrichs

»Durch umfangreiche Quellensichtung und Gespräche mit Betroffenen gelingt es Berth ein vergessenes, oft schockierendes Kapitel deutsch-deutscher Heimerziehung zu rekonstruieren. Dass er es klug und gut verständlich in die Wissensgeschichte einbettet, ihre Resonanzen in Politik und Gesellschaft mitbeleuchtet, das macht das Buch so lesenswert…«

Versorgerin. Zeitung der Stadtwerkstatt, Juni 2023

Rezension von Magnus Klaue

»Dass dennoch die Geschichte der Säuglingsheime in der BRD und DDR seit einigen Jahren aufgearbeitet wird und dass Menschen, die durch dortige Aufenthalte geschädigt wurden, Aussichten auf Kompensation haben, zeigt aber, dass die zwischenzeitlich vergessene Episode der gesamtdeutschen Geschichte allmählich ins politische Bewusstsein tritt. Berth erzählt von dieser Episode so, dass dabei zugleich ein vergessener Aspekt der psychoanalytischen Ideen- und Sozialgeschichte gegenwärtig wird…«

Scharf Links. Die ›neue‹ linke online Zeitung, 28. Mai 2023

Rezension von Michael Lausberg

»Dies ist eine erste längere Arbeit zu dem Thema, das als Grundlage für notwendige weitere intensivere Forschungen dienen kann. Leider liegt die Perspektive meist auf die der BRD und es bleiben noch Leerstellen für die DDR. Dennoch bleibt das Buch als pädagogische Institutionsgeschichte mit den psychosozialen Folgen und einem authentischen Blick aus der Sicht von Betroffenen wertvoll…«

Thüringische Landeszeitung am 15. April 2023

Rezension von Hanno Müller

»Das Buch beschreibt ein System von Kinderverwahranstalten, in denen das wenige Personal kaum Zeit hatte für die grundlegendsten Bedürfnisse der Kleinen wie Hygiene oder Nahrungsaufnahme. Kinder saßen apathisch den ganzen Tag in ihren Bettchen oder wurden stundenlang auf dem Topf festgebunden. Beschäftigte in Ost und West beklagten in den 1950er-Jahren die ständige Eile. Eine ostdeutsche Kinderärztin berichtete vom deutlichen Zurückbleiben der sozialen Reaktionen, neurotischen Symptomen, vermehrtem Bettnässen oder stereotypen Schaukelbewegungen, was auch als Hospitalismus beschrieben wurde…«

taz – die tageszeitung am 4. April 2023

Rezension von Manuala Heim

»Die Geschichte der Säuglingsheime in Deutschland ist dramatisch, sagt Historiker Felix Berth im erschütternden taz-Interview mit Manuela Heim. Eine Million Kinder in Ost und West waren sich nahezu selbst überlassen…« [mehr]

Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16. März 2023

Rezension von Felix Berth

»Auch in der DDR wusste man, dass der frühe Aufenthalt in Säuglingsheimen die Bindungsfähigkeit der Kinder stört, nur durfte das nicht offiziell gesagt werden…« [mehr]