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Nachruf auf Gerlinde Gehrig

Mit Verzögerung erreichte uns die Nachricht vom Tod Gerlinde Gehrigs im Januar 2021. Als eine Wissenschaftlerin, die Impulse der Kritischen Kunstgeschichte aufgenommen hatte, vereinte sie ein Gespür für latent Problematisches und eine Vorliebe für das vermeintlich Abseitige mit einem Analysevermögen, das die Hinwendung zur Psychoanalyse folgerichtig erscheinen ließ. Vom Städtebau fand sie in ihrer Dissertation über die Phantasmen Alfred Kubins zum intimen Medium der Zeichnungen, um sich dann verstärkt den aus Leuchtkästen in den Raum hineinwirkenden Fotografien Jeff Walls zuzuwenden. Als Doktorandin und Postdoktorandin des Frankfurter Graduiertenkollegs Psychische Energien bildender Kunst (1997-2004) trat sie entschieden für die Beschäftigung mit den Konzepten Melanie Kleins und Sigmund Freuds ein und unterstützte den Dialog zwischen Psychoanalyse und Bildwissenschaft. Ziel war nicht nur eine psychoanalytisch informierte Hermeneutik der Bilder, sondern darüber hinaus auch die methodische Adaption psychoanalytischen Wissens für ein erweitertes Verständnis emotionaler und bildnerischer Prozesse. 

Wie dies gelingen kann, zeigte sie in ihren bis in die letzten Jahre fortgesetzten Publikationen zu Alfred Kubin durch eine Form szenischen Verstehens, die sie deutlich von Ansätzen der Pathographie distanzierte. Im Zentrum ihrer langjährigen Beschäftigung mit den Schriften und der Fotokunst Jeff Walls stand die Rekonstruktion einer diskursiven Konstellation, in deren Rahmen sie Walls über Walter Benjamin und Roland Barthes vermittelte Freud-Lektüren fruchtbar machte. Auf diesem Weg gelangte Gehrig zu einem umfassenden Verständnis des sozial und politisch angelegten Konzepts der »Mikrogestik«, das ihre Analysen in der leider unveröffentlicht gebliebenen Habilitationsschrift Schicksale des Affektiven bei Sigmund Freud und Jeff Wall leitete. 

Auch als Initiatorin und Veranstalterin von Tagungen, als Koautorin sowie als Mitherausgeberin hat sich Gehrig um den Brückenbau zwischen Kunstgeschichte und Psychoanalyse verdient gemacht, so erschienen im Psychosozial-Verlag 2009 das Handbuch psychoanalytischer Begriffe für die Kunstwissenschaft und 2017 der Tagungsband Die Ästhetik affektiver Grenzerfahrungen. In ihren Beiträgen widmete sie sich vor allem Aspekten der kunstwissenschaftlichen Emotionsforschung und spürte Desiderate und blinde Flecken dieses Projekts auf. Am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität lehrte Gehrig seit 2010 als Privatdozentin. In ihrer Heimatstadt Darmstadt hat sie mit ihrer Rehabilitation der Reformarchitektur Friedrich Pützers und der Aufwertung des Paulusviertes, in dem sie überraschende Parallelen zur Mathildenhöhe erkannte, zur Welterbe-Würde beigetragen.

Ulrich Pfarr, Dezember 2021

 

Gerlinde Gehrig, Ulrich Pfarr (Hg.)
Die Ästhetik affektiver Grenzerfahrungen
Psychoanalytische, kunst- und medienwissenschaftliche Zugänge
EUR 19,90

Die AutorInnen des vorliegenden Buches erforschen das kreative und kritische Potenzial affektiver Grenzerfahrungen in bildender Kunst, Performance, Film und visuellen Medien. Die Beiträge stehen in der Tradition eines psychoanalytischen Subjektverständnisses, wie es von den Schriften Sigmund Freuds geprägt und von der modernen Psychoanalyse weiterentwickelt wurde. Das Buch eignet sich als Einstieg in den Diskurs oder zur Vertiefung spezifischer Fragestellungen. Im Fokus stehen unter anderem Darstellungen von Gewalt und des »Bösen«, der Traumadiskurs in der Geschichte und Theorie der Photographie, Scham als Kontrollmechanismus in der Performancekunst, die narzisstische Konstellation der Aktmalerei, die Beziehung zwischen Affekt und Identität sowie Selbstzerstörungsmechanismen des narzisstischen Kosmos in den Filmen Hitchcocks. [ mehr ]

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Gerlinde Gehrig, Ulrich Pfarr (Hg.)
Handbuch psychoanalytischer Begriffe für die Kunstwissenschaft
EUR 49,90

In diesem Handbuch werden erstmals Begriffe systematisch zusammengefasst und benutzerfreundlich aufgearbeitet, die das gemeinsame Forschungsfeld von Psychoanalyse und Kunstwissenschaft bezeichnen. [ mehr ]

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