Es gibt sie manchmal doch: Ältere Männer, die etwas zu sagen haben, aber nicht nur in Monologen reden, sondern auch fragen und zuhören können. Einer von diesen war Sudhir Kakar, weltweit bekannter Psychoanalytiker und Schriftsteller, dessen Bücher in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden. Als ich ihn 2013 in Vorbereitung eines Vortrags an der APB Berlin kennenlernte, trafen wir uns in einem Café und das Gespräch verdiente den Titel Dialog. Ich erlebte Kakar zugewandt, offen und humorvoll. Nach seinem auf Deutsch gehaltenen Vortrag lud er mich und andere Kolleg:innen zu einem Besuch nach Indien ein. Tatsächlich vermittelte er uns die Einladung zu einem mehrtägigen, interkulturellen Workshop an der Ambedkar University in Delhi, der uns zu fachlich wie menschlich äußert beeindruckenden Begegnungen mit den meist jungen indischen psychoanalytischen Kolleg:innen verhalf. Am letzten Tag kam Kakar dazu, gerade von einer psychoanalytischen Konferenz in Teheran eingeflogen. Wie denn der Workshop gewesen sei, wollte er wissen. Die indischen Gastgeber und wir gaben nur positive Statements ab. Okay, sagte Kakar, und fragte dann mit sanftem, aber bestimmten Nachdruck: »Das waren jetzt höfliche Formeln, aber wie war es wirklich?«
Wie mit uns auf kleiner Bühne, so hatte sich Kakar über Jahrzehnte mit seinen Veröffentlichungen und Vorträgen dem Dialog zwischen der indischen und den westlichen Kulturen verschrieben, ein »West-östlicher Diwan« besonderer Art. Dafür war er allerdings durch seine Biografie prädestiniert wie wenige: Geboren 1938 im heutigen Pakistan, studierte er zunächst Maschinenbau, später in Deutschland Wirtschaftswissenschaften, um dann, ausgelöst durch eine Begegnung mit Erik Erikson, Psychoanalytiker zu werden, und zwar durch eine Ausbildung am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Von 1975 bis 1990 arbeitete er als »Seelenklempner in Delhi« (Zitat Kakar). Später schlug er dann zusammen mit seiner aus Deutschland stammenden Frau Katharina seinen Hauptwohnsitz in Goa auf, wenn er nicht gerade als Gastprofessor u.a. in Harvard, Chicago, Melbourne und Hawaii beschäftigt war. Kakar schrieb über 20 Sachbücher (u.a. »Kultur und Psyche – Psychoanalyse im Dialog mit nicht-westlichen Gesellschaften«, Psychosozial 2012) sowie mehrere belletristische Werke und eine Autobiografie. Neben sensiblen Porträts der indischen Kultur (so »Die Inder«, Beck-Verlag 2006, zusammen mit Katharina Kakar) beschäftigte er sich grundlegend mit der Frage, inwieweit Psychoanalyse in Theorie und klinischer Praxis weltweit Geltung beanspruchen kann oder modifiziert werden muss. Damit hielt er uns Westler zugleich einen Spiegel vor, in dem wir unsere kulturelle Begrenztheit und Irrtümer trefflich erkennen können – wenn wir den Mut dazu haben. Trotz seines Alters war Kakar bis zu seinem Tod voller Aktivitäten und Pläne, so wollte er mit einem Vortrag Ende April das »Kakar Centre for Psychoanalysis and Culture« in Delhi einweihen. Dazu kam es nicht mehr, am 22. April verstarb er im Alter von 85 Jahren. Mit ihm verliert die internationale Psychoanalyse eine herausragende Persönlichkeit.
Frank Blohm, Berlin am 30. April 2024
Von Sudhir Kakar im Psychosozial-Verlag
Kultur und Psyche
Die Essay-Sammlung des bekannten indischen Psychoanalytikers trägt zu einem psychoanalytischen Verständnis nicht-westlicher Kulturen bei und hebt gleichzeitig auch die kulturelle Relativität mancher psychoanalytischer Modelle, die als universell gelten, hervor.