Ursula Gast

Und es gibt sie doch … (PDF)

Die dissoziative Identitätsstörung und die aktuelle Kontroverse um die Erkrankung1

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Die dissoziative Identitätsstörung wird als schwere Bindungsstörung und Traumafolgestörung angesehen und gilt hinsichtlich der Diagnosestellung und Behandlung als anspruchsvoll. Im Beitrag geht es um die Kontextualisierung der gegenwärtigen Debatte über diese Erkrankung. Dabei werden zunächst die aktuellen, polarisierenden medialen und wissenschaftlichen Angriffe skizziert und als mögliche Backlash-Bewegung auf die erschütternden Befunde der Aufarbeitungskommission zu Fragen des sexuellen Missbrauchs eingeordnet. In diesem Zusammenhang wird auch das Spannungsfeld zwischen Traumatherapie einerseits und Rechtspsychologie andererseits beschrieben sowie die schwierige Frage zur Validität von Erinnerungen im Kontext dissoziativer Erkrankungen. Anschließend wird das Störungsbild der dissoziativen Identitätsstörung vorgestellt, einschließlich der klinischen Symptome und der Möglichkeit ihrer evidenzbasierten Behandlung. Es folgt die Rezeptionsgeschichte der Erkrankung, wobei eine charakteristische Traumadynamik herausgearbeitet wird. Diese der Störung inhärenten Dynamik ist dabei auch systemisch und gesellschaftlich wirksam, begünstigt kollektive Abwehrprozesse und führt zu Fehlvorstellungen und Mythenbildung über die Erkrankung. Schließlich wird gezeigt, wie diese Dynamik immer wieder auf verschiedenen Ebenen reflektiert werden muss, um Polarisierungsund Abwehrprozessen entgegenzuwirken und um stimmige Angebote für und mit Betroffenen zu entwickeln.

Abstract:
Dissociative identity disorder is regarded as a severe attachment and trauma-related disorder and is considered challenging in terms of diagnosis and treatment. This article aims to contextualize the current debate about this disorder. Firstly, the current polarizing media and scientific attacks are outlined and classified as a possible backlash movement to the shocking findings of the Independent Inquiry into Child Sexual Abuse in Germany. It also describes the tension between trauma therapy on the one hand and legal psychology on the other, as well as the difficult question of the validity of memories in the context of dissociative disorders. The disorder pattern of dissociative identity disorder is then presented, including the clinical symptoms and the possibility of evidence-based treatment. This is followed by the reception history of the disorder, whereby a characteristic trauma dynamic is delineated. This dynamic inherent to the disorder is also systemically and socially effective, promotes collective defense processes and leads to misconceptions and myth formation about the disorder. Finally, it is shown how this dynamic must be reflected upon again and again on various levels in order to counteract polarization and defensive processes and to develop coherent services for and with those affected.