537.jpg537.jpg
Zeitschrift: Psychotherapie und Sozialwissenschaft
ISSN: 1436-4638
150 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
Erschienen: Juni 2006
Bestell-Nr.: 537
»Psychotherapie & Sozialwissenschaft«
abonnieren
Herausgegeben von Ullrich Beumer

Psychotherapie & Sozialwissenschaft 1/2006: Biographieforschung in der Psychosomatischen Medizin

8. Jahrgang, 1/2006
21,40 €
Zusammenfassungen:

Katharina Koehler, Nicole Kreutzmann, Michael Koehler, Michael Koenigsmann, Astrid Franke & Jörg Frommer: Normalisierung durch Übernahme der Patientenrolle – Subjektive Krankheitsvorstellungen, Bewältigungsstrategien und Zukunftserwartungen bei Patienten mit akuter Leukämie nach Adaptation an den Klinikalltag, S. 11-27.

Gegenstand der vorgestellten Studie sind die subjektiven Krankheitsvorstellungen, Behandlungserfahrungen, Bewältigungsstrategien und Prognoseeinschätzungen von Patienten mit akuter Leukämie zu Beginn des zweiten Chemotherapiezyklus im Rahmen der Krankenhausbehandlung. Mit 12 an akuter myeloischer Leukämie erkrankten Patienten wurden etwa 6–8 Wochen nach Diagnosestellung ausführliche semistrukturierte Interviews durchgeführt. Die transkribierten Interviews wurden mit Methoden der qualitativen Sozialforschung (Grounded Theory, Qualitative Inhaltsanalyse) untersucht. Die Einzelfallauswertungen wurden überindividuellen Komparationstabellen für die Themenbereiche Wesen der Krankheit, Ursachen der Erkrankung, Beeinflussbarkeit der Erkrankung und Prognose zugeordnet und fallübergreifend nach Ähnlichkeiten und Kontrasten verglichen. In den Interviews lassen sich nur vage medizinische Vorstellungen bezüglich der Leukämie, deren mögliche Ursachen und Auswirkungen finden. Dies ist nicht nur bedingt durch Bildungsdefizite, sondern darüber hinaus durch eine aktive Vermeidung von Informationen zum Schutz vor negativen Affekten. Die Unkontrollierbarkeit der Erkrankung wirkt bezüglich des Krankheitsverlaufs angstauslösend, die Unklarheit der Krankheitsursachen wird dagegen als entlastend erlebt. Trotz des Wissens um die Schicksalhaftigkeit von Entstehung und Verlauf der Krankheit versuchen die Patienten aktiv stärker als in der Frühphase des Krankenhausaufenthalts eigene Einflussmöglichkeiten zu mobilisieren. Dabei erscheinen die Formen des Umgangs mit der Erkrankung in unserem Sample einheitlich. Die Prognose wird von allen Untersuchten relativ unabhängig vom bisherigen Behandlungserfolg anders als unmittelbar nach Diagnosestellung realitätsentsprechend skeptisch eingeschätzt. Im Vergleich mit den Ergebnissen unserer Befragung von Patienten bei Behandlungsbeginn im Rahmen einer Vorstudie lassen sich Unterschiede bezüglich der Beurteilung der Krankheitsentstehung, der Einschätzung der Einflussnahmemöglichkeiten auf den Krankheitsverlauf und der Prognoseeinschätzung aufzeigen.


Michael Langenbach: Die Bedeutung der Biographie für das subjektive Erleben einer Herztransplantation, S. 29-70.
Herztransplantationen sind aus Sicht der betroffenen Patienten dramatische Eingriffe, die ihr Leben verändern. Doch wird die Wechselwirkung zwischen individueller Biographie und Transplantationseingriff in empirischen Untersuchungen häufig nicht ausreichend gewürdigt. Wir berichten über eine qualitative Studie an 18 Patienten vor und nach Herztransplantation, die wir in narrativen Interviews befragten. Die Interviews wurden mit der Methode der »Grounded Theory« ausgewertet. Das subjektive Erleben der Patienten wurde nach der Methode der »Verstehenden Typenbildung« analysiert. Dabei erschlossen sich fünf typische Lebensverläufe, die mögliche Weisen des Bezugs von Transplantation und Lebenslauf beschreiben: Umdichtung des eigenen Lebens in ein erfolgreiches Narrativ; Hilflosigkeit, nachdem sich die Erwartungen an die Herztransplantation nicht erfüllt haben; die Herztransplantation als typische Szene des Lebenskampfes; Leiden unter dem Verlust der beruflichen Anerkennung, der durch die Transplantation nicht zu kompensieren ist; habituelle Angstverdrängung.

Christina Papachristou, Marc Walter, Burghard F. Klapp & Jörg Frommer: »Ich würde es mir dreimal überlegen (…)«. Problemkonstellationen biographischer Arbeit vor und nach Leberlebendspenden, S. 71-93.
Die Entwicklung der Medizin konfrontiert die Menschen mit neuen Möglichkeiten und gleichzeitig mit neuen Fragen und Dilemmata. So bietet die Medizin Spendern die Möglichkeit der Leberlebendspende und delegiert damit die Entscheidung über das Leben oder den Tod eines Menschen an den Spender, der einem nicht zu unterschätzenden Risiko ausgesetzt wird. Die subjektive Sichtweise und Bewertung der Entscheidung zur Spende hängt zentral davon ab, ob man die Spende vor oder hinter sich hat, wie die Entscheidung getroffen wurde, und mit welchen Folgen diese einherging. An zwei Fallbeispielen wird gezeigt, dass unter situativem und sozialem Druck eine ad-hoc Entscheidung getroffen wird, die dann subjektiv einen hohen Preis hat und schwieriger als erwartet in die Lebensgeschichte integriert wird. Als Schlussfolgerung stellt sich die Aufgabe für die präoperative psychosomatische Spenderevaluation und Betreuung, die Spender zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Folgen der Spende zu ermutigen und damit eine bewusste Entscheidung zu fördern. Darüber hinaus sollte bei komplizierten Verläufen postoperativ auf die Unterstützung der Spender bei der Bewältigung und beim Prozess der Integration des Erlebten größeres Gewicht gelegt werden.

Katrin Perleberg, Fritz Schütze & Viktoria Heine: Sozialwissenschaftliche Biographieanalyse von chronisch kranken Patientinnen auf der empirischen Grundlage des autobiographisch-narrativen Interviews. Exemplifiziert an der Lebensgeschichte einer jungen Patientin mit Morbus Crohn, S. 95-145.
Das autobiographisch-narrative Interview und seine Methode der Analyse ermöglichen eine besondere Einsicht in die Lebensgeschichten von Patientinnen und Patienten mit komplexen chronischen Krankheiten. Hierbei können nicht nur diejenigen Verkettungen von lebensgeschichtlichen Ereignissen, die in besonderer Weise mit dem ersten Auftreten der Erkrankung, mit Krisenhöhepunkten der Erkrankung und mit ihren weiteren Entfaltungsstadien besonders verbunden sind, im Detail untersucht werden. Darüber hinaus können auch die größeren Erlebnisgestalten (Dilthey) genau erfasst werden, welche die persönliche Erfahrung der Krankheit im konkreten Detail prägen. Diese Erlebnisgestalten sind zudem die Vermittlungsinstanz und der interpretative Bezugsrahmen für die Einwirkung der Krankheit auf die Lebensgeschichte der Patientin und deren Deutung. Und natürlich sind sie auch die Erfahrungsbasis und das Orientierungsgerüst für die eigenen biographischen Zukunftsvorstellungen vor dem Horizont der chronischen Krankheit. Der Verlauf, die Dauer und die soziobiographische Einwirkung der chronischen Erkrankung haben eine jeweils sehr unterschiedliche individuelle Ausprägung. Biographieanalyse kann zu einem erweiterten Verständnis der Krankheitsgeschichten und Lebenssituationen von Patientinnen beitragen. Mit ihrer Hilfe können das psychosomatische Wechselverhältnis zwischen biographischen Prozessen und der Krankheitsentwicklung – und u. U. auch deren gegenseitige Einwirkung aufeinander - sowie die Wechselwirkung zwischen biographischen Prozessen und der Behandlungsarbeit aufgezeigt werden. Biographieanalyse ist von Wert für die Aufdeckung der Schwierigkeiten und der Chancen des Lebens mit einer chronischen Krankheit. Besonders wertvoll dürfte sie sein für die Untersuchung der Einwirkung psychosomatischer Erkrankungen auf das Leben der Patientinnen und umgekehrt. Der Beitrag expliziert und erläutert beispielbezogen die grundlagentheoretischen Einsichten in die Entfaltung von Lebensgeschichten (insbesondere von biographischen Prozessstrukturen) und in die für deren Erforschung geeigneten Methoden-Basis und Methodenschritte der Erzählanalyse, wie sie in der qualitativen Sozialforschung in den letzten dreißig Jahren gewonnen worden sind. Der Artikel demonstriert die Forschungsschritte, die bei der Analyse autobiographisch-narrativer Interviews zur Anwendung kommen (nämlich: strukturelle Beschreibung, analytische Abstraktion, kontrastiver Vergleich und Erzeugung eines theoretischen Modells).Dies geschieht auf der empirischen Basis von zwei Einzelfallstudien von Patientinnen mit Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa. Die besondere Eignung des autobiographisch-narrativen Interviews und der entsprechenden Auswertungsschritte wird für die Aufdeckung von Beziehungen und Konstellationen (in der Lebensgeschichte und in der Lebenssituation der Patientinnen sowie zwischen der Lebensgeschichte und Lebenssituation auf der einen Seite und der Krankheit auf der anderen) aufgezeigt, die von den Patientinnen nicht bemerkt werden, nicht gesehen werden oder ihnen gar gänzlich unbekannt sind. Hierbei haben Hintergrundskonstruktionen des autobiographischen Stegreiferzählens einen besonderen methodischen Stellenwert.