4 Seiten, PDF-E-Book
Erschienen: März 2003
Bestell-Nr.: 21003
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Günter Franzen
Gewalt redet nicht. Zur Erinnerung an Michael Lukas Moeller (PDF)
Freie Assoziation 2003, 6(1), 87-90
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Aus der Einleitung:
In der 1970 erstmals ausgestrahlten Fernsehdokumentation »Klassenphoto« von Eberhard Fechner findet eine filmische Annährung an eine Gruppe deutscher Männer des Jahrgangs 1918 statt. 35 Jahre nach dem in einer Kleinstadt Baden-Württembergs absolvierten Abitur treffen sie in ihrer alten Schule zusammen, um vor der Kamera darzulegen, wie sie zu denen wurden, die sie sind. Der Klassenverband wurde durch Krieg und Gefangenschaft halbiert. Ein jüdischer Mitschüler hat es vorgezogen, dort zu bleiben, wohin er sich gerettet hat: nach Amerika. Die 18 Überlebenden sind anscheinend davongekommen und haben sich einen Platz in der Hierarchie des ökonomisch rehabilitierten Wirtschaftswunderlands erobert: Ärzte, Anwälte, Fabrikanten, höhere Beamte. Sie sind wieder wer oder sind zumindest bemüht, es zu behaupten. In der Großaufnahme wirken ihre Gesichtszüge wie überfroren. In den verschatteten Augenwinkeln nistet die Erinnerung an das Grauen, an erlittene und ausgeübte Gewalt, eine in die Haut eingeschriebene historische Katastrophe, die ein Stück weiter unten, dort, wo die Münder den Text zum Bild formulieren, sogleich dementiert wird. Hier ist die Rede von den Gegnern, denen man es gezeigt, von Schlachten, die man geschlagen, von Frontbegradigungen, die man vorgenommen, von inneren Schweinehunden, die man über das bittere Ende hinaus niedergekämpft hat. Der deprimierende Eindruck, dass diese Sprache, die sie im Munde führen, die Sprache des generalisierten Anderen ist, eine gefühlsferne Sprache des Befehls und des Gehorsams, erfährt seine Steigerung durch das unüberhörbare Verlangen, das endgültig letzte Wort zu behalten. Wendet man den Blick ab von diesen geschlagenen Männern, die unsere Väter waren, von den ergeben neben ihnen auf plüschigen Wohnzimmergarnituren kauernden Frauen, die unsere Mütter waren; Frauen, die schicksalsergeben an ihren Lippen hingen und von denen sie keinen Widerspruch befürchten mussten, wird für einen Augenblick das ganze Ausmaß des psychischen Elends sichtbar, von dem wir alle, Väter, Mütter und Kinder bis in die letzte Pore unserer Existenz durchdrungen waren. Eine verriegelte, verklemmte und verrammelte Welt, zusammengehalten von der unheiligen Dreifaltigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft: Ruhe, Ordnung, Sauberkeit und einem von Schuld und Scham gesättigten Schweigen, das kein Ende nehmen wollte.
In der 1970 erstmals ausgestrahlten Fernsehdokumentation »Klassenphoto« von Eberhard Fechner findet eine filmische Annährung an eine Gruppe deutscher Männer des Jahrgangs 1918 statt. 35 Jahre nach dem in einer Kleinstadt Baden-Württembergs absolvierten Abitur treffen sie in ihrer alten Schule zusammen, um vor der Kamera darzulegen, wie sie zu denen wurden, die sie sind. Der Klassenverband wurde durch Krieg und Gefangenschaft halbiert. Ein jüdischer Mitschüler hat es vorgezogen, dort zu bleiben, wohin er sich gerettet hat: nach Amerika. Die 18 Überlebenden sind anscheinend davongekommen und haben sich einen Platz in der Hierarchie des ökonomisch rehabilitierten Wirtschaftswunderlands erobert: Ärzte, Anwälte, Fabrikanten, höhere Beamte. Sie sind wieder wer oder sind zumindest bemüht, es zu behaupten. In der Großaufnahme wirken ihre Gesichtszüge wie überfroren. In den verschatteten Augenwinkeln nistet die Erinnerung an das Grauen, an erlittene und ausgeübte Gewalt, eine in die Haut eingeschriebene historische Katastrophe, die ein Stück weiter unten, dort, wo die Münder den Text zum Bild formulieren, sogleich dementiert wird. Hier ist die Rede von den Gegnern, denen man es gezeigt, von Schlachten, die man geschlagen, von Frontbegradigungen, die man vorgenommen, von inneren Schweinehunden, die man über das bittere Ende hinaus niedergekämpft hat. Der deprimierende Eindruck, dass diese Sprache, die sie im Munde führen, die Sprache des generalisierten Anderen ist, eine gefühlsferne Sprache des Befehls und des Gehorsams, erfährt seine Steigerung durch das unüberhörbare Verlangen, das endgültig letzte Wort zu behalten. Wendet man den Blick ab von diesen geschlagenen Männern, die unsere Väter waren, von den ergeben neben ihnen auf plüschigen Wohnzimmergarnituren kauernden Frauen, die unsere Mütter waren; Frauen, die schicksalsergeben an ihren Lippen hingen und von denen sie keinen Widerspruch befürchten mussten, wird für einen Augenblick das ganze Ausmaß des psychischen Elends sichtbar, von dem wir alle, Väter, Mütter und Kinder bis in die letzte Pore unserer Existenz durchdrungen waren. Eine verriegelte, verklemmte und verrammelte Welt, zusammengehalten von der unheiligen Dreifaltigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft: Ruhe, Ordnung, Sauberkeit und einem von Schuld und Scham gesättigten Schweigen, das kein Ende nehmen wollte.
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Freie Assoziation 2003, 6(1), 87-90
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