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Zeitschrift: Psychotherapie und Sozialwissenschaft
ISSN: 1436-4638
Broschur, 148 x 210 mm
Erschienen: Juli 2007
ISBN-13: 978-3-89806-711-9
Bestell-Nr.: 711
»Psychotherapie & Sozialwissenschaft«
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Psychotherapie & Sozialwissenschaft 1/2007: Erzähltes Alter - erzählte Angst

9. Jahrgang, 1/2007

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Die Vermittlung eigenen Erlebens im narrativen Modus ist eine Praxis des Poetisierens, eine darstellende und beschwörende Form des Sprechens, in der sich ein Individuum oder ein Kollektiv selbst zum Ausdruck bringt, auf sich selbst verweist und das, was erzählend zur Darstellung kommt, als bedeutsam und persönlich involvierend vorführt. Es erstaunt daher nicht, dass sich die Altersforschung dem biografischen Erzählen zuwendet. Sie interessiert sich zunehmend für die narrative Selbstvergewisserung als substitutiver Handlungswirklichkeit, als intergenerativer Weitergabe und als Poesie eines Selbst- und Weltverhältnisses. Die narrative Gerontologie (dazu der Tagungsbericht von Judith Rossow und Mone Spindler Geschichten mit und ohne Bart: Narrative Konstruktionen von Alter und Geschlecht in diesem Heft) ist in besonderer Weise interessiert an der narrativen Herstellung von Lebenswelt, die gerade im höheren Alter zur Chance mentalen Integrierens gehört – einer Leistung, die seit Eriksons Modell einer lebenslangen Entwicklung des Selbst- und Weltbezugs stark beachtet wird. Das retrospektive Nacherleben, Gewichten, Werten und Neubetrachten macht sich geltend, wenn die Ausrichtung auf Zukunft, Planung und Einsatz für das bisher nicht Erreichte zurücktritt zugunsten der Aneignung des Vergangenen.
Man will sagen können: So war es. So war ich. So bin ich. So ist mein
Leben. Die Aneignung des Vergangenen geschieht auf persönliche und individuelle Art. Es ist eine Herausforderung und ein kreatives Vergnügen eigener Art, Biografisches aus der Vergangenheit und der Gegenwart im persönlichen Gespräch vor einem aufmerksamen, beteiligten Partner auszubreiten, der von außen kommt und nicht dem gewohnten Kreis angehört. Vier Funktionen des Erzählens kommen in unterschiedlicher Gewichtung zur Geltung: Erzählen im Dienste der sozialen Integration: Die erzählende Selbstmitteilung fordert soziale Resonanz und Kommentierung. Die Darbietung zielt auf ein emotionales Echo des bedeutsamen sozialen Anderen ab; Erzählen im Dienste der psychischen Restitution: Im Prozess des Erzählens wird versucht, das Gewesene in Richtung auf das Wünschbare zu korrigieren. In diesem Sinne dient die Erzählung dem Interesse einer nachträglichen Erfüllung. Das Modellieren des Erzählprozesses als Imperativ einer Wunscherfüllung steht in produktiver Spannung zur Abwehrbewegung; zusätzlich muss die Erfüllungsdynamik »Vermeidung von sozialer Ablehnung« publikumsgerecht gestaltet und im Bedarfsfall verdeckt werden; Erzählen im Dienste psychischer Reorganisation: Diese Modellierungsleistung ist eine Bewältigungsstrategie seelischen Aufruhrs, mit der versucht wird, erlittene Erschütterung, psychische Destabilisierung in negativer, traumatisierender oder in positiver, euphorisierender Richtung im Nachhinein durch wiederholtes Erzählen zu integrieren. Der aktive Prozess des Gestaltens erhöht das Gefühl der Kontrollierbarkeit. Und schließlich: Erzählen im Dienste der Vergegenwärtigung: Erzählen ist Evokation von Vergangenheit in einem neuen Beziehungskontext.
Marie-Luise Hermann präsentiert Narrative Gerontologie als Literatur- und
Forschungsbericht. Katarzyna Swita gibt anhand ausgewählter Beispiele Einblick in eine Interviewstudie (narrative lebensgeschichtliche Interviews mit Personen im hohen Lebensalter), die an der Universität Zürich durchgeführt wird. Erzählte Angst – ein großes Thema. Erzählanalysen, wie wir sie auf der Basis von Verbatimtranskripten an der Universität Zürich durchführen, weisen darauf hin, dass sich zwei Prototypen narrativer Angstdarstellungen unterscheiden lassen: einerseits risikofokussierte und andererseits schädigungsfokussierte
Angstdarstellungen. Risikofokussierte Narrative thematisieren
die Konfrontation eines Ichs, einer Person mit einer Bedrohungsattacke;
der Erzähler schildert, wie er ihr entkam, sich ihr stellte oder sie
glücklich oder blessiert überwand. Schädigungsfokussierte Angstdarstellungen stellen die Bedrohungssituation als übermächtig und letztlich unentrinnbar dar, das Ich ist invasiven Attacken und Blessuren ausgesetzt und thematisiert erzählend vor allem die Schädigungsfolgen, die oft als bis in die Gegenwart reichend geschildert werden. Es ist das Muster der schädigungsfokussierten Angstdarstellung, das im psychotherapeutischen Kontext die zentrale Rolle spielt, neben jenen – bei Gülich und Boothe im Folgenden besonders wichtigen – Formen der Angstkommunikation, die Angst- und Bedrohungsinhalte in der Latenz oder in der Ambivalenz zu halten sucht. Angst lässt sich charakterisieren als alarmierte psychophysische Verfassung bei Bedrohung der Integrität und Intaktheit der eigenen Person, bedeutsamer Anderer und bedeutsamer Güter angesichts einer negativen Kräftebilanz zu den eigenen Ungunsten. Das Bedrohungserleben kann sich auf den Ebenen der physiologischen Regulierung, der Expression, der Thematisierung
und der Aktion geltend machen. Angst gilt seit den Anfängen der Psychoanalyse als Gegenstand von elementarem Interesse, weil es Angst
ist, die den Radius des Handelns verengt und die Urteilsfunktionen beeinträchtigt, weil sie Entwicklungschancen blockiert, vor allem aber, weil sie – insbesondere dies galt als neurotische Angst – sich gegen die eigene Person zu richten vermag, genauer, gegen eigene Regungen, Gedanken und Wünsche. Man kann vor sich selbst nicht fliehen und vermeidet gleichwohl die Selbstkonfrontation. Daher schafft die selbstgerichtete Angst eine doppelte Latenz: die Angst wird verschleiert, und ebenso werden mögliche Objekte und Ursachen von Angst unkenntlich gemacht oder verfremdet. Eindrucksvoll ist und bis heute bemerkenswert wenig erforscht (allerdings war Elisabeth Gülich die Initiatorin der Kooperationsgruppe Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst, ZIF Bielefeld 2004), wie sich die Thematisierung von Angstinhalten sprachlich und kommunikativ
vollzieht und wie sich die Vermeidung der Thematisierung von Angstinhalten sprachlich vermittelt. Elisabeth Gülichs Beitrag »Volle Palette in Flammen «. Zur Orientierung an vorgeformten Strukturen beim Reden über Angst eröffnet ein außerordentlich interessantes Forschungsfeld, das von sprachwissenschaftlichen Beobachtungen an diagnostischen und psychotherapeutischen Gesprächen mit Patienten ausgeht und zu unmittelbar klinisch relevanten Befunden kommt: Die Darstellung von Angst bedient sich häufig einer Rhetorik des Eindringlichen, evokativer Bildlichkeit und der Dramatisierung
– z.B. »Volle Palette in Flammen« – zugleich aber spielen Stereotypien,
formelhafte Wendungen und andere vorgeformte Ausdrücke eine bemerkenswert große Rolle. Die Vermittlung von Angstinhalten scheint, zumindest im klinischen Kontext, einer widersprüchlichen Dynamik zu folgen; Darstellen versus in der Latenz Halten, Selbstöffnung versus diffundierende Distanz werden als Leistung der Sprache und der kommunikativen Arbeit sichtbar. In diesem Sinne ist Brigitte Boothes Beitrag »Im Dezember bin ich umgekippt«. Erzählen über Kontrollverlust als kasuistische Ergänzung zu Elisabeth Gülichs Befunden zu verstehen.
Wenn Angst und ein Interesse, sich zu schützen, dasjenige ist, das zur Rettung einer bedrohten Person überwunden werden muss, werden andere Thematisierungs- und Formulierungsmittel eingesetzt, naheliegenderweise das Nivellieren des eigenen Risikos, das Hochstufen der Erfolgsaussichten der eigenen unterstützenden Handlung sowie Maßnahmen der Normalisierung oder Veralltäglichung des Vorgangs. Über solche Beobachtungen kann Merve Winter im Rahmen ihres laufenden Forschungsprojekts zur Lebendorganspende im Rahmen des neu eingerichteten Schweizer Graduiertenprogramms ProDoc berichten; eindrucksvoll ist zugleich die kommunikative Darstellung des Ringens um Zuversicht und Angstnivellierung, Angst und Sorge schaffen sich hier vor allem metaphorisch Ausdruck.
Wie qualitative Forschung sich mit quantitativen Verfahren sinnvoll verbindet und zu spezifisch klinisch relevantem Ertrag führt, zeigt die Studie von Thorsten Jakobsen, Christine Knauss, Puspa Agarwalla, Ruth Schneider, Heinz Hunziker, Joachim Küchenhoff. Die Autoren legen Eine komparative Kasuistik auf der Grundlage quantitativer Ergebnismessungen und qualitativer Prozessbeschreibungen als Beitrag zum Verständnis therapeutischer Prozesse vor. Im Zentrum stehen zwei Behandlungsprotokolle der in Basel durchgeführten FIPP-Studie zu Prozess und Ergebnis psychoanalytischer Psychotherapien. Die beiden Fälle unterscheiden sich nach quantitativer Messung deutlich in Bezug auf den Erfolg. Es ist die detaillierte Inspektion der OPD-Diagnostik, und es sind die qualitativen Auswertungen der von den Therapeuten notierten Prozessnotizen, die Einblick in Wechselwirkungen zwischen Störungsprofil und Veränderungsressourcen, kurativen Beziehungschancen und Zuschnitt der Arbeit an und in der Übertragung geben. Die intensive qualitative Analyse erschloss die beiden Therapieverläufe im systematischen Vergleich; sie erweist sich auf handlicher Konkretionsebene als ausgesprochen nützlich für die klinische Praxis. Besonderer Dank für die ausgezeichnete und kontinuierliche redaktionelle Unterstützung gebührt Frau lic.phil. Nicole Kapfhamer!
Für die Herausgeber Brigitte Boothe