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24 Seiten, PDF-E-Book
Erschienen: Juni 2025
Bestell-Nr.: 22622
https://doi.org/10.30820/0941-5378-2025-1-9
»Psychoanalyse im Widerspruch«
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Martin Altmeyer

Sackgassen in »Wokistan« (PDF)

Wo im gerechten Kampf gegen Diskriminierung die Fallen der Selbstgerechtigkeit lauern

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Um Fragen der Identität tobt in den Gesellschaften des Westens ein anhaltender Kulturkrieg. Ohne Zweifel gibt es in liberalen Demokratien bei aller Berufung auf Menschenwürde und Gleichheit nach wie vor eine rassistische Ausgrenzung von Menschen, die als Fremde angeblich nicht hierhergehören. Minderheiten, die öffentlich verkünden, wer sie sind oder sein wollen, verlangen zunehmend nach sozialer Anerkennung und Sichtbarkeit. Brauchen wir Safe Spaces, um diskriminierte Menschen vor weiteren Verletzungen zu schützen? Soll man kompensatorische Gedankenund Sprachzensur betreiben? Oder führt uns das in den Tugendterror einer Cancel Culture, die längst nicht nur von links, sondern als Zensur inzwischen auch von einer reaktionären Rechten praktiziert wird? Solche Fragen stellt sich in aller Dringlichkeit eine akademisch gebildete, moralisch hochsensible und politisch hellwache, eben: »woke« Generation. Einerseits hat diese im Engagement für Diversität und Inklusion ein feines Sensorium für die Unterdrückung und Entwertung besonderer Menschengruppen entwickelt, deren Interessen entschieden verteidigt werden. Andererseits treibt ihr Hang zur Hypermoral die Kämpfer für die gerechte Sache gelegentlich in Sackgassen der Selbstgerechtigkeit, in denen sie sich ideologisch zu verrennen drohen. Gestützt auf einen postmodernen Sozialkonstruktivismus oder postfeministische Gendertheorien neigen sie zur identitätspolitischen Engführung, bei der sich unter der Hand das, was im Zusammenleben eigentlich keine Rolle mehr spielen soll – Hautfarbe, soziale Herkunft, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit, Geschlecht oder sexuelle Orientierung – zum wahren Identitätsanker verwandelt. Amartya Sen (2007) spricht von einer »Identitätsfalle«, deren Varianten in diesem Beitrag untersucht werden: Erstens die Opferfalle, in der Selbstviktimisierung honoriert wird. Zweitens die Authentizitätsfalle, in der kulturelle Aneignung als gemeiner Diebstahl gilt. Drittens die Falle eines Kulturrelativismus, der sich vom Universalismus der Moderne verabschiedet. Viertens die Falle eines postkolonialen Weltbilds, das insbesondere die Einzigartigkeit des Holocaust bezweifelt und den Antisemitismus verharmlost. Und fünftens schließlich die Geschlechterfalle, in der Sex und Gender vermischt oder miteinander verwechselt werden. Aus Sicht einer relationalen Psychoanalyse füge ich am Ende einige Bemerkungen an zur Rolle von »Wokeness« in den unvermeidlichen Nähekonflikten einer zusammenwachsenden Welt.

Abstract:
There is a cultural war over the question of identity going on within western societies. Despite all appeals to human dignity and equality there is no doubt that people even in liberal democracies are still discriminated, for racist reasons, to be strangers allegedly not belonging to the country. Minorities are publicly announcing who they are or want to be while increasingly demanding social recognition and visibility. Do we need safe spaces in order to protect insulted people against further insults? Should we operate with compensatory censorship of thought and language or will that lead us to a terror of virtue called cancel culture which is practiced not only by the political left but as well by a reactionary right? Such questions are urgently asked by a »woke« generation academically well educated, morally sensitive at a high level, and politically wide awake. Strongly engaging in favour of diversity and inclusion and developing a fine sensorium for the oppression and devaluation of specific groups whose interests are committedly defended, on the one hand, there is on the other hand a tendency towards self-righteousness fueled by a hyper-morality with an occasional drift into dead ends where the fighters for justice get lost in questionable ideologies like postmodern social-constructivism or postfeminist gender-theories. Contemporary identity-politics produce a secret flow including a problematic transformation: color of skin, social origin, ethnic or religious affiliation, gender or sexual orientation actually meant to no longer play any role in society are suddenly turned into an identity anchor. Amartya Sen (2007) – in his book Identity and Violence – speaks of an »identity trap« whose different appearances are examined in more detail: First, the victim trap where self-victimisation is honored. Second, the trap of authenticity where cultural appropriation is defined as a malicious theft. Third, the trap of cultural relativism which means a farewell to modern universalism. Fourth the trap of postcolonialism casting doubt on the singularity of the Shoah and trivializing anti-semitism. And finally, fifth the gender trap in which biological sex and psychosocial gender role is mixed-up or confused with each other. At the end I add some observations on the role of »Wokeness« given the unavoidable conflicts of closeness in a merging world – from the viewpoint of a relational psychoanalysis.